Schwarz

Wir mahnen

Lüneburg, 30.1.2025

Wir mahnen!

Die Gleichzeitigkeit der Gedenkstunde im deutschen Bundestag zum Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus und dem entsetzlichen Zusammenwirken von CDU/CSU, FDP und AfD am 29. Januar 2025 nur wenige Stunden später ist unerträglich.

Mit dem Beschluss des Entschließungsantrages der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über eine rechtswidrige Neuregelung der Migrationspolitik mithilfe von Stimmen der AfD, ist ein Damm gebrochen. Rechtspopulismus ist in der bürgerlichen Mitte angekommen. Denn, der Erschließungsantrag wird mit der Tat von Aschaffenburg begründet. Aber: Mit dem Mord an einem Kind und einem 41-jährigen Familienvater Wahlkampf zu machen, ist empathie‑, geschmack- und pietätslos, allen voran den Angehörigen gegenüber. Das ist jedoch nur ein Aspekt. Der Populismus in der Mitte an sich ist brandgefährlich. Seine plakativen Botschaften sind auf Halbwahrheiten aufgebaut.

Diesen Halbwahrheiten eines menschenverachtenden Rechtspopulismus ist entgegenzusetzen:

In Aschaffenburg wurde ein marokkanisches Kind von einem erkrankten Mann ermordet, der zwar auch eine ausländische, nämlich afghanische Herkunft hat, aber vor allem erkrankt war. Das zweijährige ermordete Kind, dass in der politischen Debatte für einen nationalistischen Protektionismus missbraucht wird, war ein Kind mit Migrationshintergrund. Auch das zweite betroffene Kind, das schwer verletzt wurde, hat einen syrischen Hintergrund. D. h., unter den Opfern und ihren Familien, gibt es zwei Familien mit Migrationshintergründen. Es verbietet sich auch vor diesem Hintergrund Stimmung zu machen gegen andere Menschen mit Migrationshintergrund.

Wir mahnen!

Es gibt keine sogenannten »guten« und »schlechten« Migrant*innen oder Asylsuchende. Asylsuchende Mütter und Väter sind vom Grunde her genauso »gut«, »unschuldig« und »schutzbedürftig« wie ihre Kinder. Junge Geflüchtete sind genauso »schutzbedürftig« wie die Älteren.

Es gibt keine Migrant*innen und Asylsuchenden, die aus bestimmten Ländern angeblich mehr wert sind als aus anderen Ländern.

Und: Migrant*innen und Asylsuchende mit Erkrankungen sind zunächst einmal Erkrankte, egal wo sie geboren und aufgewachsen sind und woher sie kommen.

Die richtige Frage lautet daher: Hatte die staatsbürgerliche und kulturelle Herkunft des Täters irgendeinen Einfluss auf das Verbrechen?

Die Antwort lautet: Nein.

Die Wahrheit ist, in Aschaffenburg wurde ein Mann zum Mörder, weil er erkrankt ist. Weil er ganz offensichtlich nicht ausreichend therapeutisch behandelt wurde bzw. möglicherweise eine medizinische, und damit auch immer menschliche Fehleinschätzung vorlag. Vielleicht liegen die Gründe seiner erfolglosen Behandlung aber auch darin, dass er als Afghane mit Abschiebeperspektive wohlmöglich eine andere medizinische Versorgung erhielt als Nichtmigrant*innen. Die Hilfsangebote für Menschen, die durch Krieg und Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung, aber auch durch unmenschliche Fluchtbedingungen und jahrelanges Ausharren in Auffanglagern erkranken, sind in den letzten Jahren drastisch zurückgeschraubt worden.

Am Ende hätte diese Tat vielleicht auch trotz bester Behandlung nicht verhindert werden können, denn niemand kann in einen Kopf und die Seele gucken, auch Psychiater und Therapeuten nicht. Das bedeutet aber auch: Die bestialische Tat, der Mord, ist alles andere als eine Folge eines Einwanderungsproblems. Die Ursache liegt woanders.

Die politische Forderung hätte daher viel eher lauten müssen, die Hilfsangebote und medizinische Versorgung von Migrant*innen und Asylsuchenden insgesamt zu verbessern, um solche Taten zukünftig zu verhindern. Dass diese Forderung aus keiner Bundestagsfraktion kam, sondern stattdessen ein rechtswidriger 5‑Punkte-Plan, das ist das eigentliche Versagen.

Wir mahnen!

Mit diesem Rechtsruck wird es nicht nur für Hilfsbedürftige aus Kriegsgebieten, für politisch Verfolgte und andere Asylberechtigte kälter, sondern auch für alle anderen Bedürftigen, die nicht in das von Rassismus, Sexismus, Ableismus und Antisemitismus durchdrungene Menschenbild der neuen Rechten passen. Mit einem Erschließungsantrag zur Verbesserung der Hilfsangebote und medizinischen Versorgung von Menschen mit Fluchthintergrund wäre ein Fischen am rechten Rand sicherlich gescheitert. Aber, es wäre die präventivste Maßnahme gewesen, um fachspezifische Einrichtungen zu stärken, die dazu beitragen können, dass »Aschaffenburg« sich nicht wiederholt, egal woher ein gewaltbereiter Mensch stammt.

Wir mahnen!

Es ist ein falscher Patriotismus, wenn er sich auf die Untergrabung internationaler, humanitärer Standards stützt.

Es ist ein falscher Patriotismus, wenn er auf eine Diskriminierung schutzbedürftiger Menschen aufbaut und hierbei eine demokratische Grundordnung verlässt.

Und unter schutzbedürftige Menschen sind eben gerade auch jene vulnerablen Menschen gemeint, die aufgrund von Erkrankung und Beeinträchtigung in besonderem Maße Unterstützung brauchen.

Wir mahnen!

Es hat sich in der deutschen Geschichte nie positiv ausgewirkt, wenn demokratische Parteien die Flanke nach rechts außen öffnen. 1932 nicht, 1933 nicht und gegenwärtig eben auch nicht.

Es ist ein Armutszeugnis sämtlicher demokratischer Fraktionen im Bundestag sowie in hohem Maße verantwortungslos, dass nicht einmal vier Wochen vor einer Bundestagswahl ein Schulterschluss mit einer vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei eher möglich ist als ein überfraktioneller Konsens von demokratischen Parteien. Natürlich müssen Kommunen entlastet werden, aber nicht durch rechtswidrige Regelungen humanitäre Standards und europäische Regelungen missachtet.

Die »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg befindet sich an einem Ort einer ehemaligen sogenannten »Kinderfachabteilung« und einer sogenannten »Ausländersammelstelle«, in der mindestens 440 Kinder und Jugendliche sowie über 140 Erkrankte mit ausländischer Herkunft zwischen 1941 und 1945 ermordet wurden. Insgesamt sind in der Zeit des Nationalsozialismus über 1.600 Menschen, vornehmlich Kinder, Jugendliche und Erkrankte ausländischer Herkunft durch Beschäftigte der Lüneburger Krankenhäuser ermordet worden. Wir wissen, was Menschen möglich ist, sogar dort, wo Leben zu heilen und zu retten ist. Das legitimiert uns, uns in besonderem Maße für Menschen einzusetzen, die im Nationalsozialismus aufgrund ihrer Beeinträchtigung und Erkrankung, aber auch aufgrund ihrer ausländischen Herkunft in besonderem Maße Opfer rechtspolitischer Gewalt wurden. Wir klären über strukturelle und alltägliche Entrechtung und entgrenzte Gewalt auf, die immer dann passiert, wenn Menschen in vermeintlich »lebenswert« und in vermeintlich » lebensunwert« aufgeteilt werden und wenn gegen die Würde jedes einzelnen Menschen gehandelt wird.

Vor diesem Hintergrund mahnen wir:

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«

(Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland)

Henry Schwier, 1. Vorsitzender
Dr. Carola S. Rudnick, Leiterin und Geschäftsführerin

im Namen aller Angehörigen von Opfern der Lüneburger Eugenik- und »Euthanasie«-Verbrechen

im Namen aller Vereinsmitglieder und Unterstützer*innen der Aufarbeitung der Lüneburger NS-»Euthanasie«-Verbrechen

im Namen des gesamten Teams der Ehrenamtlichen, der freien und hauptamtlichen Mitarbeitenden der Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg